Am Wochenende habe ich mich im Larp, also in einer
gespielten Fantasy-Welt, als Kartenlegerin versucht. Das Kartenlegen ist
eine ganz eigene Form des Geschichtenerzählens, aus der man viel lernen kann,
wenn man sich darauf einlässt. Natürlich muss man seine Karten und ihre fünf
bis sieben Bedeutungen plus die Bedeutungen der umgedrehten Karten kennen und
eine ungefähre Ahnung von Legesystemen haben. Und natürlich muss man auch hier
die Leute dazu kriegen, dass sie überhaupt wollen, dass man ihnen die Karten
legt. Immerhin sollen sie (Spiel-)Geld dafür bezahlen. Genauso, wie sie im
richtigen Leben Geld für die Bücher bezahlen sollen, die ich schreibe, damit
ich einen weiteren Monat lang meine Miete bezahlen und trotzdem am nächsten
Buch arbeiten kann.
In einer Fantasy-Welt müsste es allgemein viele
Geschichtenerzähler geben, aber das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Leute
wollen einfach nicht zuhören. Tja. Ist das jetzt der Fehler der Zuhörer oder
der Fehler der Erzähler?
Mir sind einige Leute
begegnet, die mir erzählten, dass sie einen hauptberuflichen
Geschichtenerzähler spielen wollten. Manche von ihnen haben Märchen und
Legenden auswendig gelernt (was gut ist, denn wenn man beim Erzählen stockt und
die Sprache unterbricht, ist das ganz böse und reißt die Zuhörer raus). Aber
sie können erst mal „nur“ diese Erzählung und Legende, sie passen sie nicht ans
Publikum an, flirten nicht mit den Zuhörern und bringen sie nicht dazu, zu
glauben, dass diese Geschichte in Wahrheit von ihnen handelt. Es ist schwer, da
die Kultur der mündlichen Geschichten in unserer Kultur fast ausgestorben ist.
Ich fürchte, ich muss da auch noch viel lernen – und ich habe keine Ahnung, bei
wem ich das könnte.
Bei manchen Spielern in der Fantasywelt ist es noch
schlimmer. Die wollen keine Geschichten erzählen, um ihr Publikum zu
unterhalten, sondern ihre eigene Geschichte loswerden, damit das Publikum sie
(also den Erzähler) toll findet. Bei den mündlichen Geschichtenerzählern
agieren solche Leute für mein Empfinden auf der gleichen Ebene wie beim
geschriebenen Wort mit den Möchte-gern-Autoren. Leute wie der Manager ohne
Freundin mit tausend Überstunden und einem beschissenen, langweiligen Leben,
der ein Buch über einen Manager ohne Freundin mit tausend Überstunden und einem
beschissenen, langweiligen Leben schreiben möchte, in dem plötzlich „etwas
(nicht näher Definiertes) ganz Spannendes“ passiert, die beim Schreiben aber
nicht über die ersten zehn Seiten hinausgelangen.
Am vergangenen Wochenende habe ich entdeckt, dass das Legen
von Tarotkarten in der Fantasywelt eine Nische ausfüllt, in der man Leute für
ganz spezielle Geschichten begeistern kann. Diese Erzählungen handeln nicht von
mir, Jana Feuerbach und Autorin, oder von Dingen, die mir wichtig sind.
Stattdessen erzählen die gelegten Karten von der Person, die mir gegenüber
setzt. Die Zuhörerin bekommt ihre eigene Geschichte erzählt, und ich bin gut
genug, um die spannenden Punkte in dieser Geschichte zu finden und sie so zu
erzählen, dass mein Gegenüber bei seiner oder ihrer eigenen Geschichte
mitfiebert. Ich hoffe jedenfalls, dass ich gut genug bin. Widerspruch bitte
unten in die Kommentare, Schweigen werte ich als Zustimmung.
Das Kartenlegen ist eines der besten Trainings für eine
angehende Geschichtenerzählerin, das ich mir ich vorstellen kann. Ein fremder
Mensch kommt und setzt sich zu mir an den Tisch, um eine Geschichte zu hören,
die ich exklusiv für ihn erzähle. Ich weiß nicht mehr über ihn als das, was ich
sehe. Seine Augenbewegungen, seine Körpersprache, sein Zusammenzucken. Ich
wechsele ein paar Worte mit ihm, frage nach dem Namen und nach den Dingen, die
er wissen möchte. Dann kommt das Ritual und Bla-bla des Kartenmischens. All das
dient dafür, ein Gefühl für den Menschen zu bekommen. (Nein, ich glaube nicht
daran, dass Papierkarten mit bunten Bildern tatsächlich magisch sein könnten.
Aber man kann mit ihnen gute Geschichten erzählen.)
Bevor ich das erste Bild aufdecke, mache ich mit meinen
Karten das Outlining für eine Geschichte. Im einfachsten Fall sind es fünf
Karten. Protagonist (mein Gegenüber) in der Gegenwart, Protagonist in der
Vergangenheit, Protagonist in der Zukunft. Schädigende Einflüsse, positive
Einflüsse. Wenn jemand mehr bezahlt und ein komplexeres Bild will, umso besser
– als angehendes Schriftstellerlein bin ich hoffentlich in der Lage, aus einer
Fragestellung und einem Konflikt ein Storyboard zu entwickeln. Ein solches
Outlining hat bereits vor dem ersten Bild all das, was ich auch für einen Roman
brauche. Eine Figur mit einer Vorgeschichte und einer Zukunft, in die reisen
wird. Dinge im Umfeld oder in ihrem Innern, die sie hemmen und ihr Steine in
den Weg legen. Außerdem gibt es Facetten und Bereiche, die sie voranbringen.
Auch ohne die erste Karte umgedreht zu haben, weiß ich nach
einem solchen Outlining bereits, dass es eine gute Geschichte ergeben wird. Sie
hat einen Helden, der nicht statisch ist und der Ecken und Kanten besitzt (den
realen Menschen, für den die Karten gelegt werden). Die Erzählung hat eine
Vorgeschichte, die zur Gegenwart führte, und sie bietet Ausblicke in die
Zukunft, die bitte schön gut sein sollen, denn jeder Leser oder Zuhörer mag ein
Happy End. Und sie hat Hindernisse, Widersprüche und Schwierigkeiten, die
überwunden werden müssen, um das Happy End zu finden. Schließlich soll es
realistisch sein. Man will dafür kämpfen. Wenn es einfach vom Himmel platscht,
ist es nichts wert.
Versuche nicht, der Figur, dem Menschen, der dir gegenüber
sitzt, also deinem Zuhörer, Vorschriften zu machen und ihn in bestimmte
Richtungen zu drängeln! Menschen sind nicht blöd. Sie merken, wenn man
versucht, sie zu manipulieren, sie beschummelt oder ihnen ein Weltbild aufzwingen
will. Respekt ist eine der wichtigsten Fähigkeiten im Leben, finde ich. Ganz
unterschiedliche Leute kamen im Verlauf des Abends zu mir. Jeder von ihnen ist
einzigartig. Seine Probleme haben damit zu tun, dass er eben ist, wer und was
er ist. Auch die Wege zur Lösung resultieren aus seiner eigenen Persönlichkeit
und nicht aus dem, was ich ihm vielleicht wünschen oder empfehlen würde.
Das war mein Wochenende als Kartenlegerin im Larp. Es war ein
klasse Training darin, mit fast null Vorbereitungszeit und null Vorwissen durch
ein sauberes Plotten (äh, Kartenbild) Geschichten zu improvisieren, die –
genau, die von den Menschen handelten, die mir gegenüber saßen.
Damit schließe ich meinen Bogen und kehre zurück zum Anfang,
was beim Lesen normalerweise ein Gefühl von Stimmigkeit und Rundheit erzeugt.
Ich habe eine Lektion für mich gelernt, die du gern für dich ebenfalls
übernehmen darfst. Wenn du Geschichten erzählen willst, erzähle sie wie eine Kartenlegerin,
nicht wie ein Redner im Parlament. Erzähle den Leuten die Geschichten, die sie
hören wollen, und erzähle sie so, dass sie sich darin wiederfinden. Erinnere
sie daran, was gerade sie zu einem ganz besonderen Menschen macht – denn das
vergessen die Leute so gern, und das finde ich schade. Deine Worte sollen
entrücken, verzaubern, verstören – und am Ende mit einem neuen Gefühl von
Hoffnung und Tatendrang zurück in diese Welt führen.
Mache es nicht wie der Manager mit dem langweiligen Leben,
der seinen Alltag aufschreibt und für den Anfang einer hochspannenden
Geschichte hält. Geschichten funktionieren anders. Aber wenn dieser Typ dir
eines Tages über den Weg läuft, vielleicht auf der anderen Seite eines
Tarot-Bildes, vielleicht auch am Lagerfeuer unter den Sternen oder in der
U-Bahn oder als Romanfigur oder als Leser … erzähle ihm eine Geschichte, die
von ihm selbst handelt und in der er sich wiederfindet. Wenn du dein Handwerk
gut gelernt hast, wird diese Geschichte spannender sein als alles, was er sich hätte
ausdenken können. Vielleicht wird sein Leben danach tatsächlich etwas
spannender verlaufen?
Das ist Magie, die tiefer geht als alle bunten Bilder, die
auf Kartenpapier gedruckt sind. Und an diese Magie glaube ich.